Tradition ist kein Gulasch

published in Der Tagesspiegel, 12 November 1995

In Berlin wird viel über klassische Architektur und über das Gefühl für Tradition geredet. Was jedoch getan wird, ist das Gegenteil. Während man über Tradition in Berlin spricht, wird sie zerstört.

Im Jahr 1991 kam ich das erste Mal nach Berlin. Der Grund war, dass ich den Bauwettbewerb für den Neubau der Grundschule der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gewonnen hafte. Zu dieser Zeit hatte ich nur eine sehr begrenzte Kenntnis der Berliner Architekturszene und ihrer allgemeinen Richtungen. Ich kannte und bewunderte die großen Namen der Vorkriegszeit wie Bruno Taut Max Taut, Hans Poelzig, Erich Mendelsohn, Mies van der Rohe und Hans Scharoun. Ich fühlte instinktiv, dass einige dieser Namen populärer waren als andere und heute, wenn ich mir ansehe, was in dieser Stadt gebaut wird, verstehe ich auch, warum. Viele der großen Meisterwerk der Architektur, die in Berlin gebaut wurden, sind nicht wirklich in die architektonische Stadtgeschichte integriert. Berlin scheint in gewisser Weise seine eigene herausragende Architekturvergangenheit zu ignorieren. Unsere zeitgenössischen Ideen sind immer in der Vergangenheit verwurzelt, jedoch ist unsere Vergangenheit niemals fest definiert und fortwährend für neue Interpretation offen.

Ich habe zum Beispiel eine völlig andere Meinung über den Makkabäeraufstand als viele meiner Landsleute. Die ihm als Zeichen großen Mutes interpretieren. Für mich steht er für einen unverantwortlichen Akt einer fanatischen Minorität, die viel Leiden verursachte, und der ein Ende der Unabhängigkeit der Juden für die nächsten zweitausend Jahre bedeutete. Diese Interpretation der Vergangenheit bringt mich heute auch in Auseinandersetzungen mit denen, die gegen Kompromisse mit unseren arabischen Nachbarn sind. um Frieden zu erreichen. Ich bringe dieses Beispiel von einem so fernen ort und aus ferner Vergangenheit, um zu illustrieren, dass unsere Anschauung der täglichen Realität von der Art und weise abhängt wie wir unsere Vergangenheit deuten. Die Art, wie wir unsere Vergangenheit verstehen, formt auch unsere gegenwärtige Sinngebung und unsere persönliche Vorlieben.

Wie ich schon sagte, war ich zu Beginn meines Aufenthaltes in Berlin überrascht, dass einige große Architekten der Vergangenheit für das zeitgenössische Architekturdenken nicht mehr relevant zu sein schienen. Hans Scharoun zum Beispiel, ist kein Heros in dieser Stadt (Frank Gehry sagte als er dies hörte: "Aber er ist mein Heros"). Scharouns Arbeiten werden, glaube ich, von der breiten Öffentlichkeit sehr geschätzt und von den Professionellen mehr oder weniger ignoriert. Sie haben keine Resonanz, kein Echo in der Arbeit der Berliner Architekten von heute. Das Gleiche kann man von Erich Mendelsohn und vielen anderen sagen. Ihrer Werk scheint ein Brocken zu sein, den die heute in Berlin praktizierenden Architekten nur schwer verdauen können. Große Architektur handelt von Intentionen, Mut und Kreativität, ist ein Versuch, menschliche Erfahrung zu bereichern und das Wertvollste in der menschlichen Natur auszudrücken. Große Architekten sind Romantiker, alle der Sache gleich ergeben und auf der genuinen Suche die bestmöglichen Bedingungen für Alle zu schaffen. Solch eine Moral, solch eine ethische Position hat sehr wenig mit dem Interesse der meisten zeitgenössischen Investoren, Grundbesitzer und der bürokratischen Maschinerie zu tun. Der Architekt soll begrenzten zielen dienen, die auf der Grundlage von kurzfristigen wi4- schaftlichen Gewinnen, erstellt werden. Um dies respektabel aussehen zu lassen, versteckt man sich hinter Namen wie Mies van der Rohe. Sein Ordnungssinn, vor allen Dingen, sein Respekt für Reichtum und seine Vorliebe für exklusive Materialien macht ihn für die attraktiv, die gerne den Reichen dienen. Es versteht sich von selbst, das diejenigen, die sich hinter seinen Meisterwerken verstecken, nur wenig von seinem phänomenalen Sinn für Proportionen und dem klassischen Geist seiner Arbeit verstehen.

Es ist wahr, in Berlin wird viel über klassische Architektur und über das Gefühl für Tradition geredet. Was jedoch getan wird, ist das genaue Gegenteil. Während man über Tradition in Berlin spricht, wird sie zerstört. Tradition kann man nicht in der Vorratskammer aufbewahren, es ist eine lebendige Kontinuität, die aus konsekutiven schichten originärer Beiträger großer Geister, großer Künstler besteht. Schichten um schichten originären Denkens, originärer Akte erstellen unsere Tradition. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, zwei Wege, die eine Gesellschaft beschreiten kann: sie kann eine neue Schicht künftiger Tradition erschaffen und sie den ererbten hinzufügen, oder sie wird steril und parasitär werden. und die ererbte Tradition verzehren und zerstören. Tradition ist kein Gulasch, das man wieder und wieder aufwärmen und Tag für Tag essen kann, obwohl genau dieses leider Attitüde in Berlin zu sein scheint Einige machen ... Stimmann für diese heutige Situation verantwortlich. Es kann durchaus sein, dass sich die Situation verschlechtert hat, seitdem er Bausenatsdirektor geworden ist. Wenn wir uns jedoch die Prä-Stimmann-Situation vor Augen halten, finden wir auch wenig wenig Erfreuliches. Stimmann erschafft nicht die Situation in Berlin, er versucht nur, ihr die präzise Ausdrucksform zu geben. Er formt, was er bereits vorgefunden hat. wenn wir denken, dass die Situation schlecht ist, und ich glaube. die Situation der Architektur in Berlin von heute ist so tragisch wie nie zuvor, müssen wir uns der Realität stellen und in unser reflektiertes Ebenbild schauen. Wir Architekten erschaffen die Form dieser Stadt.

Dazu würde ich sagen, dass - mit Ausnahme von einigen um ihr Überleben im täglich schwierigen Alltag hart kämpfenden Individuen - die allgemeine Situation moralisch korrumpiert ist. Gute Architektur ist suspekt und wird abgelehnt, ehe man sie überhaupt gesehen und verstanden hat. Ich glaube, in der jetzigen Situation hat kein herausragender Entwurf auch nur irgendeine Chance, einen Wettbewerb zu gewinnen. Bereits die Zusammenstellung der Jurys, und die Wahl der Architekten die in heutigen Wettbewerben eingeladen werden, ist so sorgfältig vorgewählt, dass jede „Gefahr", dass wundervolle Ideen durch das enge Netz der Berliner Zensur durchschlüpfen, ausgeschlossen wird. Die Banalität und Mittelmäßigkeit muss gewinnen, egal was es für die Stadt bedeutet.

Die heutigen Bewohner der Stadt und die zukünftigen Generationen zahlen die Zeche. Meiner Meinung nach (und ich weiß, einige meiner Kollegen denken da anders), spiegeln die Resultate des Spreebogen-Wettbewerbs die furchtbare Provinzialität und den Mangel historischen Bewusstseins der Jurymitglieder wieder, was sich am ausgewählten Projekt zeigt. Es zerstört in völlig ungerechtfertiger er Weise die große Vergangenheit des Platzes der Republik und Berlin erhält als Gegenleistung die banalste lineare Form einer Mall wie man sie von Dallas bis Seoul überall auf der Welt baut, eine Tragödie die man in der Zukunft unmöglich wieder korrigieren kann.

Das Resultat des kürzlichen Wettbewerbs für das Bundeskanzleramt in Berlin entspricht ebenso dem, was ich aufzeigen will. Auch hier ist der mit dem 1. Preis ausgezeichnete Entwurfleider eine pure Banalität, ein schwaches Echo der Architektur von Louis Kahn.

Wie kann jemand auch nur glauben, dass eine Form, die bereits seit Jahren verbraucht ist, in der Lage sein könnte, die zeitgenössische Realität von Berlin, von Deutschland, wahrhaft zu repräsentieren. Was für eine Provinzialität, was für ein Mangel an Selbstrespekt und Selbstbewusstsein I In einer Stadt die vor noch gar nicht so langer Zeit durch Taut, Mendelsohn. Scharoun und andere für ihre Architektur berühmt war! Diese Architektur war auch eine sehr gesunde Investition. Bedeutende Architektur ist immer auch wirtschaftlich. Sie rechnet sich auf der Grundlage einer Art von Mega-Ökonomie. Die Nutzen ergeben sich nicht nur für die heutige Öffentlichkeit sondern auch für zukünftige Generationen. Gab es je eine bessere Investition mit höheren Gewinnspannen als die eher bescheidene Investition der Medici in Florenz?

Der Verfasser, israelischer Staatsbürger, entwarf die Grundschule für die Berliner Jüdische Gemeinde.

Download PDF