Fünf Seiten in Duisburg

Claus Käpplinger, 1996

Architektur Aktuell, Oktober 1996

Zvi Hecker gewinnt Wettbewerb für ein jüdisches Gemeindezentrum in Duisburg

Mehr als fünf Jahrzehnte nach dem Holocaust erfährt Jüdisches Gemeindeleben in Deutschland eine Renaissance. Von 50 auf 1. 100 Mitglieder angewachsen, sah sich daher die jüdische Gemeinde Mühlheim-Duisburg- Oberhausen diesen Sommer dazu veranlasst, sieben Architekten zu einem Wettbewerb für ein neues Gemeindezentrum einzuladen. Sehr anspruchsvoll war dabei die gestellte Aufgabe: Das 1.600 m' große Raumprogramm beinhaltete eine Schule. eine Synagoge. Einen multifunktionalen Veranstaltungsraum und mehrere Wohnungen. Der Standort befindet sich an der Kante der Duisburger Altstadt zum Innenhafen, in einem Entwicklungsgebiet der IBA Emscher Park, die an dieser Stelle einen Park plant. Obwohl der endgültige Grundstückszuschnitt vom Ergebnis des Wettbewerbs abhängig gemacht wurde, gelang es nur wenigen Teilnehmern, eine über zeugende Verbindung zwischen der alten Blockrandbebauung und dem neuen Landschaftsraum herzustellen. Dieses Kriterium war es aber, das die Jury für den Entwurf von Zvi Hecker (Berlin/Tel Aviv) einnahm, der sich damit gegen renommierte Konkurrenz u.a. von Daniel Libeskind, Peter Kulka, Jourda und Perraudin durchsetzen konnte. Das Problem von Geschlossenheit und Offenheit löste er mit seinen ,,fünf Seiten der Geschichte". Geleitet von der ausgeprägten Texttradition des Judentums, nämlich der Einheit des Textes mit dem Leben des Volkes, hier speziell von fünf Kapiteln der jüdischen Geschichte Duisburgs, formulierte Zvi Hecker mit fünf fächerförmig angeordneten, dreigeschossigen Riegeln einen unverwechselbaren Ort, der zwischen Stadt und Park überzeugend vermittelt. Er schlug also nicht einen aus dem städtischen Bereich herausgelösten Pavillon vor wie die meisten seiner Konkurrenten, sondern eine kleine Stadt, eng verwandt mit der Heinz-Galinski- Schule in Berlin. Die monolithischen Riegel öffnen sich zum freien Landschaftsraum des Parks, dazwischen ist viel Raum für den vorhandenen Baumbestand und für wechselnde Hofsituationen und Nutzungen. Jede ,,Seite", die gleichermaßen als ein Finger einer Hand gelesen werden kann, lässt sich leicht mit einem bestimmten Bereich identifizieren. Vom hohen Eingangstor über dem schmalen Vorhof bis ins Foyer drückt sich so ein differenzierter Grad an Offentlichkeit aus. Der Weg der Gemeindemitglieder führt vom Profanen zum Heiligen.
begleitet von einer wechselvollen Lichtführung durch die teilweise verglasten Dächer der ,,Seiten". Ganz programmatisch rückte Hecker die Synagoge an die exponierteste Ecke des Komplexes zum Park, wo sie nun mehr Endals Mittelpunkt ist. Seine Aussage: Jüdisches Leben sei eher eine aktive Gemeinschaft denn sakrales Erlebnis, das religiöse Bekenntnis eine Frage individueller Entscheidung. Dennoch kritisierten die Juroren zurecht die eingängige, aber starre Grundrißform des Davidsterns für die Synagoge, die eine spätere Erweiterung kaum erlaubt und die Zugänglichkeit des Emporenbereichs der Frauen erschwert. Zvi Hecker entschied sich für diese Form, weil sie für ihn - ähnlich den fünf Seiten eine Einheit von Bedeutung und Raum verkörpert, die sich jedem rasch vermittelt und trotzdem verschiedene Perspektiven und Interpretationen zulässt. Angesichts bereits geäußerter Sicherheitsbedenken bezogen auf die fließenden Übergänge in den Park, bleibt nun nur zu hoffen, dass in der folgenden Überarbeitung die so freie wie selbstverständliche Folge der Räume nicht doch noch der bislang abgeschirmten Existenz jüdischen Gemeindelebens in Deutschland zum Opfer fällt.

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